Uls Kolumne

Die Drehmoment - Lüge

Hubraum = Drehmoment?

Tief im kollektiven Unbewussten der Motorradfahrer verankert ist die unerschütterliche Gewissheit, daß ein Motor mit großen Einzelhubräumen "Drehmoment" hat. Alte Fahrensmänner nicken ergriffen mit dem Kopf, wenn der - inzwischen auch schon 40jährige - Nachwuchs sagt: "Der Zweizylinder hat zwar nicht soviel PS wie der Vierzylinder, aber dafür hat er Drehmoment." Jawoll, der junge Mann hats kapiert. Der Vierzylinder ist eine luftpumpende Drehorgel, die man im fünfstelligen Drehzahlbereich halten muß, um vorwärts zu kommen, während der Zweizylinder schon bei niedrigen Geschwindigkeiten wie die Sau schiebt.

Und jetzt komme ich - nicht als erster - um zu sagen, daß das alles Quatsch ist.

Wenn man sich etwas gründlicher mit dem Thema auseinandersetzen will, läßt sich ein bißchen Theorie nicht vermeiden. Damit die nicht allzu grau wird, versuchen wir es mal mit zwei jungen Damen. Aus pädagogischen Gründen nehmen wir an, daß beide sommerlich gekleidet und ansehnlich sind. Nehmen wir weiter an, daß die eine eher kräftig ist und die andere mehr der zierliche Typ. Die Kräftige kann 50 Kg tragen, die Zierliche 25 Kg. Damit hätten wir auch schon das Drehmoment ermittelt. Das der einen ist doppelt so hoch wie das der anderen. Weil die beiden jungen Damen aber eigentlich Motoren sind, sollen sie nun auch irgendetwas innerhalb einer gewissen Zeit von A nach B bringen. Dadurch kommt der zweite Faktor ins Spiel. Die Geschwindigkeit. Nehmen wir an, daß die 50 Kilo Frau 10 Kilometer in einer Stunde laufen kann, die 25 Kilo Frau aber 20 schafft.

Im folgenden Beispiel machen wir jetzt schon den ersten Ausflug ins wahre Leben. Die Beiden sollen 100 Kilo Kohlen über eine Strecke von 10 Kilometern tragen. Das geht nur, wenn die Kräftige zweimal hin und zurückläuft. Also vier Mal 10 Kilometer. Dafür braucht sie 4 Stunden. Jetzt kommt die Zierliche und muß acht Mal 10 Kilometer laufen. Weil sie aber schneller ist, braucht auch sie nur 4 Stunden. Beide haben alles gegeben und es geschafft, 100 Kilo Kohlen in 4 Stunden an einen10 Kilometer entfernten Ort zu schleppen. Die beiden haben also die gleiche Leistung vollbracht, obwohl die kräftigere der Damen, wir erinnern uns, doppelt soviel Drehmoment hat.

Um das mal auf einen Motor zu übertragen: Auch dessen Leistung setzt sich aus zwei Faktoren zusammen. Der Kraft (Nm) und der Geschwindigkeit (Um/min). Damit wären wir bei der Pferdestärke. Nur sie beinhaltet beide Faktoren und läßt eine wirkliche Aussage über die Leistung zu. Daß der eine oder andere trotzdem noch behaupten wird, die 50 Kilo Frau wäre "kräftiger" als die 25er, ist nicht überraschend und sogar richtig, wenn wir davon ausgehen, daß dieser Begriff verschieden besetzt ist. Auf jeden Fall hat er, was ein Motorrad betrifft, eine etwas andere Bedeutung. Und dafür ist die Entdeckung des Hebels verantwortlich. Tatsächlich wimmelt es in einem Motorrad geradezu von Hebeln. Der Kolben benutzt die Kurbelwelle als Hebel, alle folgenden Zahn und Kettenräder arbeiten nach dem Hebelprinzip und auch der Abstand von der Reifenoberfläche zur Mitte der Hinterradachse ist einer.

Wenn wir nun der zierlichen Frau einen Hebel zur Verfügung stellen würden, der doppelt so groß ist wie der ihrer Mitbewerberin, wäre sie damit in der Lage, die gleiche Kraft auszuüben. Und auch diesmal könnte sie den längeren Weg, den sie dadurch zurücklegen müßte, durch ihre höhere Geschwindigkeit kompensieren. Für einen Motor bedeutet das, daß wir die Kraft, die am Hinterrad ankommt, verdoppeln können, indem wir die Übersetzung halbieren (oder ein paar Mal zurückschalten).

Nachdem wir nun den Zusammenhang zwischen Drehmoment und Leistung hoffentlich einigermaßen geklärt haben, ist die Ursprungsfrage immer noch nicht beantwortet. Wie verhält es sich mit dem Durchzug? Dazu eine Grafik. Nehmen wir als Beispiel eine Yamaha MT 01. Ein bärenstarker Vau-Zwo, langhubig, 1670 Kubik, gute150 Nm, 90 PS und eine Drehmomentkurve, die wie der Mount Everest über allem liegt, was selbst eine 180 PS starke 4Zylinder Tausender zustande bringt. Nennen wir diese mal GSXR. (Bevor das Gemecker losgeht. Die folgenden Kurven entsprechen nicht exakt den Daten dieser Motorräder. Sie sind aber für diesen Vergleich ausreichend genau)
Drehmomentlüge
Die erste, aber nicht unübliche Gemeinheit dieser Grafik besteht schonmal darin, daß das Diagramm mit 50Nm anfängt. Dadurch erscheint die Kurve der MT01 doppelt so hoch wie die der 1000er. Tatsächlich sind es nur (immerhin) ca. 50%
Um die Kurven vergleichbarer zu machen, schauen wir uns die maximalen Drehzahlen an. Bei der MT sind es 5200 Um/min, bei der GSXR 13.000 Um/min. Das ist ein Verhältnis von 1 zu 2,5. Und jetzt erlauben wir uns den Spaß und übersetzen die GSXR so kurz, daß sie die gleiche Höchstgeschwindigkeit wie die MT erreicht. Das sieht auf dem Diagramm so aus:
Drehmomentlüge
Eine ziemliche Schlappe für die MT
Einen Trumpf hat sie aber noch im Ärmel. Weil die GSXR normalerweise deutlich länger, nämlich auf ca. 300 Km/h übersetzt ist und sie selbst nur auf ca. 220 Km/h, müssen wir die Kurve der GSXR wieder mit dem Faktor 1,36 (300/220) runterrechnen:
Die Drehmomentlüge
Das ist schon knapper, aber immer noch deutlich. Wir sehen, endgültig desillusioniert, daß die GSXR wieder gewinnt. Selbst bei niedrigen Geschwindigkeiten hat sie mehr Kraft
Jetzt wollen wir nicht auch noch lange nachtreten. Deswegen nur soviel: Unterhalb von 2000 Umdrehungen, läßt es sich in den oberen Gängen mit dem Vau-Zwei der MT01 wegen heftigen Motorschüttelns nur unschön beschleunigen. Das entspricht im letzten Gang ca. 85 Km/h. Die GSXR läuft bei 2000 seidenweich und das bei nur 45 Km/h. Daß die MT auch noch ca. 60 Kilogramm mehr wiegt, ist inzwischen eigentlich schon egal.

Und nun?

Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich die Gelegenheit, eine MT01 ausgiebig zu fahren. Vielleicht mußte ich nur alt genug werden, vielleicht habe ich es auch einfach nicht früh genug versucht - ich habe selten einen Motor so liebengelernt wie diesen. Auch wenn das schwer nach abgestandener Fransenjacken-Romantik klingt - diesen kraftvollen, synkopisierten Beat wird kein Vierzylinder jemals hinbekommen. (Die junge Frau, die ich einmal mitgenommen habe, hat es übrigens noch wesentlich prägnanter auf den Punkt gebracht.)

Oder du setzt dich auf eine GSXR 1000, bummelst im letzten Gang vor dich hin, pfeifst ein Sommerlied und läßt dich, wann immer dir danach ist, mühelos auf Lichtgeschwindigkeit schieben. Dafür musst du nicht einmal schalten. Sie schüttelt das einfach so aus dem Ärmel. Das Universum verengt sich zu einem dünnen Schlauch und die Autos frieren auf der Straße fest. Wenn dich aber richtig der Hafer sticht, dann schaltest du vorher ein paar Mal zurück und ziehst die Gänge voll durch. Ein siegesgewisse Tier wird freudig aufbrüllen und dich dermaßen vorwärtsreißen, daß dir endgültig Hören und Sehen vergeht. Und dann gibt es noch die merkwürdigen Typen, die auf Oldtimern durch den Schwarzwald tuckern, nie jemanden überholen und trotzdem Stein und Bein schwören, daß sie einen Riesenspaß dabei hätten.

Vergiß alle Zahlen, mach Kinder, fahre das Motorrad, auf dem du dich wohlfühlst und begegne deiner inneren Mitte. Brommmm.


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